Am 07. Mai 2024 wurden Teile der Universität Leipzig besetzt. Laut Medienberichten waren es ca. 40-50 Personen, die dort eine Besetzung der Uni-Innenhofes sowie des Audimax, also des größten Hörsaals der Universität am Augustusplatz vorgenommen hatten. Besetzt wurden also Außenbereiche wie auch Räume für Lehrveranstaltungen und Vortragsreihen (u.a. findet dort im Audimax gerade eine Vorlesungsreihe zum Thema „75 Jahre Grundgesetz“ statt)1.
Die aktuellen Entwicklungen an der Universität Leipzig können als ein Brennglas betrachtet werden, durch dass wir aktuell bis in globale Auseinandersetzungen und die globalen sozialen wie politischen Kämpfe schauen können. Denn der Hintergrund oder besser die politische und gesellschaftliche Folie, auf der diese Auseinandersetzungen sich abzeichnen, ist einerseits der Nahost-Konflikt mit seinen neuen Ausprägungen nach dem terroristischen Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2024 sowie die Reaktionen der israelischen Regierung und des israelischen Militärs auf diesen Angriff. Nicht zu vergessen die Verschleppung von israelischen Staatsbürger_innen durch die Hamas, die bis heute anhält2.
Im Nachgang dieser Attacke und auch der militärischen Reaktionen des israelischen Staates und seiner Regierung hat sich eine neue Welle von Konfliktlagen entwickelt, die sehr viele Staaten der Welt berührt hat und zu politischen Auseinandersetzungen in diesen geführt haben. In Staaten mit großen Communities von Palästinenser_innen waren diese Auseinandersetzungen besonders stark, weil diese vom Konflikt natürlich berührt und betroffen waren und sind. Gleichzeitig waren auch Reaktionen aus den jüdischen Communities zu hören und zu beobachten: Dies hat hier in Deutschland, wo einerseits aufgrund der Geschichte Deutschlands eine besondere Verantwortung sich verortet hat, eine besondere Bedeutung. Und auch in den USA, wo sehr viele Jüd_innen leben – auch aufgrund der Emigration aus Europa während und nach der Shoah. Auch hier spielen Angst und Unsicherheit eine Rolle, gerade in globalen Städten wie New York City und damit beispielsweise auch in der Columbia University ganz im Norden des New Yorker Bezirks Manhattan.
Wie die Proteste politisch und analytisch einzuordnen sind
Auch an dieser Vorzeigeuniversität gibt sehr heftig geführte Auseinandersetzungen um diese Lehr- und Forschungsanstalt mit internationaler Ausstrahlung. Auch hier wird Polizei eingesetzt und kommt es zu friedlichen wie gewalttätigen Protesten.3
Doch wie nun sind diese Proteste einzuordnen? Wer sind die Akteure des Protestes und aus welchen Gruppen und Einzelpersonen setzen sie sich zusammen. Welche Hintergründe müssen wir kennen, damit wir diese Proteste verstehen?
Erstmal sollten wir uns nochmal bewusst werden, dass es hier um eine Besetzung von nur 50-60 Personen ging. Diese wurde von Gruppen durchgeführt, die schon in der Vergangenheit durch radikale Proteste sowie herausfordernden Positionen zum Thema Nahost-Konflikt aufgefallen sind.
Die Gruppen von denen wir hier reden, sind u.a. „Handala“, „Zora“, „Young Struggle“, sowie die „Kommunistische Organisation (KO)“, das „Frauenkollektiv Leipzig“, der Kommunistische Aufbau sowie das „Studierendenkollektiv“ und weitere problematische Politische Gruppen (PPG), wie ich sie selber analytisch versuche zu greifen. Sie zeichnen sich durch teilweise offen stalinistische und autoritär kommunistische Führungs- und Organisationsstile und -Strukturen aus.4 Sie bezeichnen sich selbst als „links“, „militant“, „antifaschistisch“ „radikal“, „feministisch“ etc. Aber ich würde sie mindestens als einseitig nicht-israel-solidarisch bezeichnen sowie als größtenteils offen antisemitisch5.
Skandiert wurden von diesen Gruppen u.a. „From the River to the Sea …“ und „Yalla, Yalla – Intifada!“6 An den Gegenprotesten waren Antifaschist_innen beteiligt, Leute vom Forum der deutsch-israelischen Gesellschaft sowie Mitglieder der Universität Leipzig. Diese waren auch von ca. 50-60 Personen getragen. Hierzu wurde auch ein Statement veröffentlicht7. In diesem gibt es eine eindeutige Positionierung auch zur Anerkennung des Leides der Palästinenser_innen in diesem Krieg und der expliziten Forderung, diesen zu beenden. Diese differenzierte Haltung ist bei den PPG nicht ausgeprägt.
Interessant ist es darüber hinaus, dass es eine Forderung dieser PPG ist, über Antisemitismus als Begriff und Analysewerkzeug zu diskutieren. Allerdings in einer herausfordernden Art und Weise. Sie möchten nämlich international anerkannte Definitionen von Antisemitismus und andere analytische Kategorien und Grundannahmen infrage stellen und selbst neue Definitionen setzen. Diese Definitionen sollen die alten Kategorien dann ersetzen.
Das ist wissenschaftstheoretisch und auch in Hinblick auf die Entwicklung von methodologischen Standards eine hochspannende Forderung. Nun sind Auseinandersetzungen um die richtigen und methodologisch sauberen Kategorien, um Axiome, um Theorien und Forschungsansätze keine ungewöhnliche Sache im Wissenschaftsbetrieb. Und dass diese von Machtfragen mitbestimmt sind, das ist spätestens seit Thomas Kuhns „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ sowie auch durch Ludwig Flecks Überlegungen zur „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv.“ bekannt. Aber eine Kategorienbildung allein aus einer aktivistischen Perspektive einzufordern, halte ich für eine gewagte Art der Wissensbildung und der theoriepolitischen Entwicklung unser Denk- und Wissenssysteme.
Herausforderungen an Universitäten, Stadtgesellschaft und darüber hinaus
Solche und andere Proteste sind natürlich eine Herausforderung für Universität, Leipziger Stadtgesellschaft usw. Das ist keine Frage. Trotzdem oder gerade deshalb gilt es, eine ruhige Analyse zu treffen und auf dieser Grundlage zu handeln.
Meiner Meinung nach hätte die Universität und ihre Leitungsebene mit solchen Protesten rechnen müssen, nämlich dass diese problematischen Politischen Gruppen, die sich um das Bündnis „Palistine.Campus“ zusammengeschlossen haben, eben solche Aktionsformen aufgreifen und umsetzen.
Denn diese Gruppen treten nicht zum ersten Mal militant und raumergreifend auf. Das diesjährige 8. März Bündnis (zum Weltfrauentag), dass eigentlich ein großes Bündnis von sehr vielen feministischen Gruppen, Institutionen, sowie Aktivist_innen war, wurde gerade in diesem Jahr von diesen Gruppen übernommen und zu ihrem Festival gemacht. Dazu gibt es auch ein Statement, der Hintergründe erklärt.8 Auch andere Demos und Aktionsformen, wie das Hanau-Gedenken etc. wurden schon von diesen Gruppen dominiert.
Raumergreifung und das Handeln der Universität Leipzig
Ein paar Sätze zur Frage, wie groß das Universitätsleben blockiert wurde und damit der Eingriff der Proteste in die Hochschule eigentlich waren: Zur dieser Raumergreifungs-Strategie der Besetzung möchte ich gerne mal folgende Berechnung anstellen – auf der Grundlage meines Wissens über die Größe der Universität Leipzig. Wenn wir überlegen, wie groß diese Universität ist, dürften das weniger als 1% der Fläche der Universität gewesen sein, die blockiert wurden (Campus-Innenhof plus Audimax). Selbst wenn wir nur die Hörsäle in allen Fakultätsgebäuden hinzurechnen, sind das weniger als 3% dieser Lehrbereiche. Und wenn wir nur die Hörsäle am Zentral-Campus am Augustusplatz betrachten, dürfte auch diese Fläche unterhalb von 5% liegen. Es war also aus meiner Sicht keine „… Gefahr in Verzug für die Sicherheit aller [sic] Studierenden und Lehrenden“9, wie in der Pressemitteilung der Universität Leipzig von der Rektorin behauptet wird.
Während der Besetzung wurde zudem ein Banner mit der Aufschrift „Uni-Besetzung gegen Genozid“ gezeigt und aufgehängt. Weiter heißt es deshalb in der Pressemitteilung: „Eine gewaltsame Störung des Lehrbetriebs und Inbesitznahme universitärer Räumlichkeiten dulden wir nicht. Die Entscheidung zur Räumung war unumgänglich“, sagte Rektorin Prof. Dr. Eva Inés Obergfell. „Proteste und Demonstrationen sind grundsätzlich legitim, solange sie das Ziel der Information und Verständigung verfolgen. Eine Gefährdung Unbeteiligter und eine Eskalation sind hingegen keine akzeptable Form freiheitlicher Auseinandersetzung.““
Ich frage mich, ob die Analyse in der Schnelle so korrekt ist und was an dieser Analyse bzw. Einschätzung in der Pressemitteilung fehlt. Ich sehe die „Gefährdung Unbeteiligter“ in dieser Tiefe nicht unbedingt gegeben und frage mich, welche „weitere Eskalation“ gemeint sein könnte, von der gesprochen wird. Klar war die Stimmung sicherlich schwierig und angespannt. Es gab sogar einige tätliche Übergriffe, die dokumentiert sind. Aber aus meiner Sicht wäre es vielleicht taktisch klüger gewesen, ein Gespräch mit den Protestierenden zu suchen (z.B. am gleichen oder nächsten Tag) und zu verhandeln, dass neben der Besetzung der beiden Räume es zu keiner weiteren Eskalation kommen darf seitens der Protestierenden. Statt dessen wird nach nicht mal 2 Stunden die Polizei zum Räumen gerufen. Laut Zeugenaussagen war die Stimmung vor Ort zwar angespannt und auch hitzig, aber so etwas hätte durch eine Deeskalation vielleicht vermieden oder zumindest aufgeschoben werden können.
Ich hätte diese Art der Verhandlung und des Versuches, politische Kommunikation und Dialog auf Augenhöhe herzustellen, für eine sinnvolle Idee gehalten. Die Polizei und/oder andere Sicherheitskräfte einzuschalten, wäre für mich nur eine letzte Option gewesen, nicht die erste. Probleme repressiv und mit Ordnungs- und Sicherheitsakteuren zu lösen, sollte nicht die erste Wahl sein, wenn es um politische Auseinandersetzungen geht. Auch wenn Menschen bedroht und angegriffen worden sind – dann hätten diese Täter einzeln in Gewahrsam gehört – nicht der gesamte Protestkörper. Denn der Protest mit Mitteln zivilen Ungehorsam ist ja teilweise sogar durch das Bundesverfasungsgericht geschützt.
Leider fehlt in dem Statement der Universität Leipzig genauso ein Benennen der politischen Problematik (Antisemitismus) und eine klare inhaltiche Kritik an den Positionierungen dieser PPG. Kein Wort wird z.B. wie gesagt verloren über den Antisemitismus, den diese Gruppen ausüben und pflegen. Da wünsche ich mir in Zukunft einen sensibleren und fachlich fundierten Austausch und eine Benennung des Problems.
Streit um Antisemitismus Definitionen und der Protest in Leipzig
In einer weit verbreiteten und oft genutzten Definition zum Antisemitismus heißt es: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“10
Eine andere operationalisierbare Definition ist die 3-D-Methode11, die sich auf den israelbezogenen Antisemitismus fokussiert: Diese Methode wird auch 3-D-Test genannt, der von Natan Scharanski entwickelt wurde: Hier folge ich den sehr gut ausgearbeiteten Materialien der Amadeu-Antonio-Stiftung, um die drei Argumentationslinien zu erklären, in der Israel anders problematisiert wird als andere Staaten: Die drei Punkte sind 1. Dämonisierung, 2. Delegitimierung und 3. Doppelte Standards.
Zu „1. Dämonisierung: Eine Aussage ist antisemitisch, wenn der Staat Israel dämonisiert, also zum ultimativen Bösen erklärt wird. Ein Mittel der Dämonisierung sind NS-Vergleiche: Wird die israelische Politik mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt?
2. Delegitimierung: Eine Aussage ist antisemitisch, wenn der Staat Israel delegitimiert, ihm das Existenzrecht abgesprochen wird. Oft knüpft die Delegitimierung an die Dämonisierung an. Wird der Staat Israel als „Apartheidstaat“ bezeichnet? In der Delegitimierung wird der Antizionismus deutlich: Jüdinnen*Juden wird das Recht, in Sicherheit im eigenen Staat leben zu können, abgesprochen.
3. Doppelte Standards: Eine Aussage ist antisemitisch, wenn an den Staat Israel andere Maßstäbe angelegt werden als an andere demokratische Staaten: Würde das Selbstverteidigungsrecht Irlands in Frage gestellt, wenn Nordirland mehrere tausend Raketen auf das irische Staatsgebiet schießt?
Der 3-D-Test floss in die Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ein. Die Definition zeigt anhand konkreter Beispiele auf, wie Antisemitismus in Erscheinung tritt. Sie hilft z.B. Behörden, codierten Antisemitismus zu erkennen und strafrechtlich zu verfolgen.“12
Die Protestrufe wie „Yalla, Yalla, Intifada“ oder „From the River to the Sea …“ oder gar „Bombardiert Israel“ sind als klar antisemitisch und vor allem auch israelfeindlich und existenzbedrohend für die Staat Israel und sein Bevölkerung anzusehen. Auch andere Share-Pics auf Instagram oder anderen Kanälen lassen keine andere Interpretation zu, als dass ein gemeinsamer Nenner dieser Gruppen Israelfeindlichkeit und Antisemitismus ist.
Das muss als Problem auch benannt werden. Und wir brauchen eine umsichtige und Opfer und Betroffene einschließende Perspektive auf die Studierenden jüdischen Glaubens sowie israelische Staatsbürger in Deutschland, denn diese gilt es zu schützen. Und ihre Ängste und ihre Sorgen sind sehr ernst zu nehmen. Hier sollte z.B. die Universitätsleitung viel Angebote an Austausch anbieten sowie Schutzräume und andere Bedürfnisstrukturen anbieten.
Auf einem anderen Feld kann sich diese Leitung einfacher positionieren. Doch die Pressemitteilung aus dieser Ebene zeigt leider keine Vorzeigecharakter. Deshalb ist es umso problematischer, dass seitens dieser Leitungsebene allein repressiv vorgegangen wurde.
Doch ist dann in einem nächsten Schritt zu fragen, welche politische Konsequenz und Reichweite diese Protestaktion hatte und haben kann. Klar kann ein Protestcamp auf dem Leibniz-Forum (also dem Uni-Innenhof) mit Zelten nerven und es entfaltet eine gewisse gegenhegemoniale Präsenz. Allerdings sind die anderen Fakultäten und Universitären Zentren wie das GWZ, die Medizin, die Sportwissenschaft, etc. pp. überhaupt nicht von diesen tangiert.
Diese können es quasi völlig ignorieren bzw. vielleicht gar nicht wahrnehmen, außer sie gehen zur Studentischen Selbstverwaltung, zu einer Vorlesung in Hörsaalgebäude oder bekommen es auf den sozialen Medien mit. Aber dafür müsste mensch so die Kanäle der beteiligten Gruppen abonniert haben. Doch wer von den gut 30.000 Studierenden13 hat diese Kanäle abonniert? Handala als die wohl größte Gruppe – und vor allem in der Lage, mehr als 100 Personen bis zu gut 500 zu mobilisieren für ihre Demos für Palestina etc. – und hat immerhin ca. 4810 Follower und folgt 311 Leuten. Das ist schon mal eine gute Reichweite. Aber, schon Zora Leipzig, eine nach eigenen Aussagen „feministische“ und „antikapitalistische“ Gruppe hat nur noch gut 2450 Follower und folgt gut 230 anderen Leuten bzw. Gruppen. Die Jugendkommune wiederum hat nur noch 780 Follower und folgt 251 Mal.14 Handala hat also eine gewissen Reichweite, aber schon Zora ist beschränkt in der Öffentlichkeit und von der Jugendkommune können wir als marginal in der Reichweite sprechen. Trotzdem wurde der Vorfall sogar in bundesweiten Medien besprochen, u.a. in der Frankfurter Rundschau gab es einen Bericht.
Andere Gruppen, die sich beteiligt haben, sind das Frauenkollektiv Leipzig, der Kommunistische Aufbau (KA) sowie das Studierendenkollektiv15. Wir können also von ca. 10 kleinen problematischen Politischen Gruppe (PPG) sprechen. Diese PPGs haben z.B. zum ersten Mai knapp einhundert Personen auf die erste Mai-Demo mobilisiert, die mit mind. 5000 Teilnehmer_innen also diese Gruppen zu sog. Splittergruppen macht.
Trotzdem sind ihre sehr professionelle PR-Arbeit und sehr gut inszenierten Aktionen (z.B. Wahl-Plakate vor dem 1. Mai „kreativ“ zu gestalten, sehr auffällig. Am Ende tappt die Aufmerksamkeitsökonomie mit ihrer Hektik und der Suche nach dem Konflikt und der Show in ihre eigene Falle. Denn demokratietheoretisch könnten wir schon fragen, ob diese Aufmerksamkeit für diese Gruppen so gerechtfertigt ist – jenseits einer sachlichen Problematisierung und analytische Einordnung.
Und so wäre es zudem der Universitätsleitung auf dieser Grundlage möglich gewesen, einen gewaltfreien Austausch zu initiieren, z.B. durch eine Abordnung der Universitätsleitung mit den Protestierenden – oder auch mit begleitet seitens des Beauftragten für Antisemitismus, den die Universität Leipzig ja dankenswerterweise hat (und mit Gerd Pickel aus meiner Sicht fachlich hochklassig besetzt ist). Diese Form von Austausch hätte ja erst mal z.B. in Räumen am Hauptcampus stattfinden können. Ein Versuch wäre es aus meiner Sicht wert gewesen, alleine um zu testen, ob und in welcher Form diese Gruppen überhaupt Dialog suchen.
Das ist nicht geschehen – vielleicht kommt hier in Zukunft ein Lernprozess in Gange. Denn wenn wir allein repressiv agieren und Polizei und Sicherheitskräften das Geschehen dominieren lassen, dann ist eine andere Gefahr im Verzug. Die Versicherheitlichung von politischen und gesamtgesellschaftlich zu betrachtenden Auseinandersetzungen und Konfliktfeldern ist kein neues Phänomen, aber weiterhin ein sehr gefährliches – weil es diese Konfliktfelder entpolitisiert und einem einseitigen Denken und Handeln Vorschub leistet.
Was tun? Kurzer Ausblick möglicher Lösungsansätze
Zu den Reaktionen der Communities ein paar Sätze: Wie können wir Betroffenheit unteilbar machen bzw. die Solidarität mit Opfern und dem Leid von Menschen nicht exklusiv für eine Seite empfinden?16 Ich weiß es bisher nicht, das muss ich eingestehen. Aber hier sollte eine Suchbewegung einsetzen, die vielleicht auch schon längst begonnen hat. Was würden wohl Meron Mendel oder Omri Böhm sagen, wenn wir sie fragen könnten? Zumindest können die Bücher „Trotzdem reden“ – herausgegeben von Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff. Denn hier heißt es sehr klar analysiert und auf den Punkt gebracht: „Spätestens seit dem 7. Oktober, dem Hamas-Massaker in Israel und der folgenden Bombardierung Gazas sowie der daraus resultierenden humanitären Katastrophe, finden Menschen in allen Teilen der deutschen Gesellschaft sich wieder in einer neuen Isolation oder gar Angst. Es häufen sich offene Briefe, Veranstaltungsabsagen und Begriffsstreitereien in einem Ton der Endgültigkeit. … Die trennende Macht der Differenzen basiert nicht zuletzt auf der realen Erfahrung von Antisemitismus und Rassismus. Wer davon profitiert, sind die Rechtspopulisten. Diejenigen, die der liberalen, wertebasierten Gesprächskultur ebenso den Garaus machen möchten wie unserer Demokratie insgesamt.
Welchen Mut, welche Kraft und Toleranz für Ambiguität und Streit können wir, müssen wir gar, aufwenden, um die Logik der Verhärtung auf der Seite derer, die unsere Welt zu einer besseren machen möchten, zu stoppen? Die hier versammelten Autor:innen halten am Austausch fest, so schwierig er sein mag. Nachdenklich, mit unverstelltem Schmerz und ungebrochenem Willen zum wechselseitigen Abwägen sprechen sie trotzdem miteinander. Dieser Band ist die greifbarste Utopie unserer Tage.“
Dazu wären die u.a. die Schriften von Omri Böhms zu einem Radikalen Universalismus zu befragen, genauso Ansätze von Meron Mendel, die dazu beitragen könnten, Gesprächskulturen und überhaupt den Streit wieder zu zivilisieren.
Dabei könnte nicht zuletzt auch Chantal Mouffes radikaldemokratischer Ansatz helfen. Hier für Agonistische Politik und Zugänge zu streiten, erscheint mir sinnvoll und diskussionswürdig. Das sind erste Namen und Theorieansätze, die in späteren Texten bearbeitet und vorgestellt werden können – genauso wie weitere. Denn im Gegensatz zu den hier problematisierten Politikgruppen habe ich aber keine abgeschlossene Agenda, sondern es handelt sich hier um eine unabgeschlossene und umfassende Suchbewegung zu einem Wissen, dass uns wieder lernen lässt, Konflikte und Auseinandersetzungen als Teil von Gesellschaft und Gemeinschaft zu begreifen und die Suche als ein (Zwischen) Ziel zu definieren, die lernfähigen Wissenschaftler_innen im Blick, nicht die Allwissenden aus ihren Elfenbeintürmen.
Zwischen-Fazit
Ich habe das politische Bauchgefühl, dass wir uns in den so genannten westlichen Gesellschaften in einer Transformationsphase befinden, was den Umgang mit Meinungen, Streit, Streitkultur und überhaupt politischen, sozialen und gesamtgesellschaftlichen Kämpfen betrifft.
Es ist vermutlich so groß, dieses Thema, gerade wenn wir hier in Leipzig den öffentlichen Raum der Auseinandersetzungen betrachten. Denn die globale und globalisierte Welt, mit ihren schönen Versprechungen vom freien Reisen, von wenigen bis keinen Grenzen, von der globalen Kommunikation und den Flow der Dinge (in diesem Fall der Waren), diese hat eben auch ihre Bruchzonen und Konfliktfelder, die auch in einer gut 600.000 Einwohner_innenstadt wie Leipzig sich materialisieren.
Damit müssen wir kalkulieren, denke ich und wir müssen Modi Operandi finden, wie wir diese Konflikte bearbeiten können. Und vor allem auch: Wo sind die Orte und Räume, wo wir dies tun können, ohne uns zu hassen.
Stefan Kausch +++ Politische Beratung Kausch
Kontakt: Politische Beratung Kausch +++ kausch@poege-haus.de
1https://www.jura.uni-leipzig.de/professur-prof-dr-uhle/studium/veranstaltungsreihe-75-jahre-grundgesetz (09.05.24)
2Dass am 09.05.2024 immer noch Menschen in den Händen von Terrorist_innen sind, sollte hier deutlich angemerkt werden.
3https://www.deutschlandfunk.de/polizei-stuermt-columbia-universitaet-wegen-pro-palaestinensischer-proteste-100.html 12.05.2024
5Vgl. den Beitrag von Pöge-Haus e.V. und Mühlstraße e.V. zum 8. März Bündnis und den Folgen
6Als Quellen dienen mir hier Personen, die bei den Protestaktionen anwesend waren und von mir interviewt worden. Aus Personenschutzgründen werden diese Leute nicht namentlich genannt.
7https://www.facebook.com/photo/?fbid=817984360365008&set=pcb.817984437031667&locale=de_DE 13.05.2024
8https://www.xn--pge-haus-n4a.de/de/2024/03/07/demokratische-standards-und-konflikte-in-kulturzentren-und-unserer-gesellschaft-ein-statement-zur-kulturellen-und-gesellschaftlichen-auseinandersetzung-soziokultureller-orte-zum-feministischen-protes/?last_page_project=&last_page_projectID=9&last_page_projecttitle=aktuell 13.05.2024
9https://www.uni-leipzig.de/newsdetail/artikel/statement-der-universitaet-leipzig-zur-besetzung-am-7-mai-2024-2024-05-07 12.05.2024
11https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/publikationen/faltblatt-was-ist-israelbezogener-antisemititsmus/ 13.05.2024
12https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2022/09/israelbezogener-antisemitismus-faltblatt.pdf 14.05.2024
13https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1288959/umfrage/studierende-universitaet-leipzig/ 12.05-2024
14Die Zahlen sind von den Instagram-Kanälen der jeweiligen Gruppe entnommen.